Die Macht der Unverfrorenheit
Der Überbegabte des französischen Theaters, der mit viel Krach in den 1990er Jahren im Théâtre des Amandier und an Gérard Philipe begeisterte, der Meteor Stanislas Nordey übernimmt mit fast fünfzig Jahren die Leitung des Nationaltheaters von Straßburg (TNS). Ein Versprechen von neuem Wind, mit dem ausgezeichneten Matador der institutionellen Eintönigkeit.
Zum Zeitpunkt ihrer Nominierung für das Theater Gérard Philipe im Jahr 1998 sagten Sie, dass Sie die Stadt Saint-Denis auswählten und nicht die Institution. Heute habe ich den Eindruck, dass Sie eher die Institution TNS als die Stadt Straßburg auswählen.
Ja und nein. Ich habe das einzige Nationaltheater in der Provinz ausgewählt sowie ein öffentliches Theater und damit eine Ethik, die in allen Gesichtspunkten mit der Geschichte der Dezentralisierung verknüpft ist, die diejenige des Centre dramatique de l’Est (Vorgänger des TNS, Anm.d.R.) ist. Ich habe mich immer in erster Linie als Pädagogen und erst dann als Regisseur oder Schauspieler gesehen, die Frage der Schule und alles was dort mit den Schüler von Gignoux erfunden wurde, hat mich auch angezogen. Ich denke hier ein Manifest von dem realisieren zu können, was Theater sein könnte, immer. Ich habe mich für keinen anderen Ort beworben, da ich nicht zu denjenigen gehörte, die unbedingt und verzweifelt irgendwo landen müssen. Ich hatte Lust für die Architektur herzukommen, für diesen Ort, an welchem die Beziehung Bühne/ Saal eine der schönsten ist. Ich habe 10 Jahre lang Theater in den Pariser Vororten (co-)geleitet, da dieses Terrain mich interessierte. Ich habe das Feld vermessen und hatte Lust auf eine neue Erfahrung. Im Elsaß gibt es überall Amateur-Theater, der Mutterboden ist interessant. Ich war schon vor sechs Jahren Kandidat, mein Verlangen ist sehr zielgerichtet, vor allem auf die Grenze, da ich mich immer mit den Fragen des Fremden, des Migranten, dem Begriff des Weltbürgertums befasst habe. An einer Grenze zu arbeiten macht aus tausenden Gründen Sinn ! Und nicht dieser Schmarrn vom Herzen Europas…
Als Sie in Saint-Denis angekommen sind, haben sie ein Manifest für das Bürgertheater verfasst. Sie sagten sie „wiesen jeden Kompromiss mit der Unverfrorenheit ihrer 30 Jahre zurück“. Sind sie es immer noch genauso ? Was hat sich seitdem verändert ?
Ich bin auch mit 48 Jahren noch unverfroren und kann auf der Titelseite der Inrocks nackt zu sehen sein, um die Rechte der Theaterangestellten zu verteidigen, obwohl mich drei Tage zuvor der Kulturminister angerufen hat und mir sagte, ich solle es nicht tun. Unverfrorenheit verliert sich nicht. Ich habe in meiner ganzen Laufbahn nicht nachgegeben. Nie. Ich habe sehr jung Erfahrungen mit den großen Institutionen gemacht, zwischen 28 und 35 Jahren. Also hatte ich ein wenig den Eindruck alles gesehen zu haben, was man dort machen konnte und was nicht. In den letzten vier Jahren haben wir uns heimlich getroffen mit Éric Lacascade, Jean-Francois Sivadier und Wajdi Mouawad um uns leidenschaftlich der Frage zu widmen, warum wir als Künstler mit einem Publikum und einer gewissen Anerkennung keine Institutionen leiten ? In dieser informellen Arbeitsgruppe kam immer wieder die Idee auf, dass wenn wir eine Richtung einschlügen, dies aus einer Frage der Generationenverantwortung heraus passiere. Wir sagten uns, der Moment sei vielleicht gekommen, um darauf zurückzukommen um diese Dinge zu festigen…
Sie von Innen zu ändern ?
Große Frage ! Als ich beim TGP aufhörte, dachte ich man könne nicht wirklich die Dinge von innen heraus verändern. Alternative Dinge daneben aufbauen (Théâtre du Soleil, Théâtre du Radeau…), ja. Aber man man kann Orte nehmen um die Mauern des Theaterlebens einzureißen, einen Schutzraum für sich selbst errichten, der für Künstler und Publikum offen ist. Ich mag die Idee von jenen die nachkommen getötet zu werden. Es ist schön, Menschen die dazu fähig sind, das Werkzeug dazu zu geben. Wenn ich zum Beispiel Vincent Macaigne betrachte, der hat bestimmt Theater begonnen, indem er sich meine Aufführungen angesehen hat und sich sagte „das ist schrecklich, ich muss etwas anderes erfinden.“ Und dann hat mich die Frage des Publikums immer begeistert und besorgt. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sagen, die Dezentralisierung habe nicht funktioniert. Sie hat nur auf der Hälfte der Strecke angehalten und es bleibt noch eine Wegstrecke, die zurückzulegen ist: bezüglich der sozialen und realen Diskriminierung im Saal und auf der Bühne.
Im TGP haben Sie Plätze für 20 F (3€) für Abonnenten, 50 F (7,60€) für die anderen und 200F (30€) für einen freien Zutritt zu allen Aufführungen eingeführt, das war eine erste Antwort auf die Frage des Publikums…
Ja, aber das ist nicht allein eine Tariffrage. Es geht auch darum ein Zeichen zu setzen, das der Gesellschaft sagt : „Das gehört Euch auch !“ Was man am meisten hörte, ist „Das ist nichts für mich“ da der Großteil der Schauspieler, Regisseure und des Publikum aus der Mittelklasse und der Bourgeoisie kommt. Das findet man genauso auf der Bühne wie im Saal wieder. Wir müssen anderen die Bühnen öffnen, denn sie werden anderes Theater machen. Was kann man mit einer Schule machen, damit sich auch Leute aus benachteiligten sozialen Schichten vorstellen können, an ihr zu lernen ? Die Frage der sichtbaren Minderheiten ist mir im Zusammenhang mit den Zuschauern sehr wichtig. Du siehst gut, dass die Leute weder du sind, noch deine Geschichte, das ist keine Frage des Repertoires, sondern eher von dem was da ist. Straßburg ist in dieser Hinsicht ein interessantes Pflaster. Ich habe nach meinem verrückten Abenteuer in Saint-Denis überhaupt nicht kommuniziert. Wir waren ausgelaugt. Statt zu sagen, dass das Defizit ausgeglichen war, hätte man von den unglaublichen Erfolgen sprechen müssen: Der Veränderung der Typologie und der Soziologie des Publikums in vier Jahren.
Sie waren auf Einladung von Jean-Pierre Vincent in den Amandiers, werden Sie in Straßburg in seine Fußstapfen treten mit einem Theater ausserhalb des Theaters (im Gericht, im Kirchturm der Kathedrale) ? Einer der möglichen Wege um ein anderes Publikum zu erreichen ?
Das ist unabdingbar. Wenn ich in Saint-Denis geblieben wäre, hätte die zweite Phase des Projekts darin bestanden ein vollständiges Theater außerhalb der Mauern, in der Stadt über drei Jahre hin zu realisieren. Wir waren zu kaputt um das umzusetzen, aber hier werden wir sehen (lacht) ! Ich hatte das „das überall installierte Theater“ genannt. Ausserdem ist das künstlerisch sehr wertvoll, denn wenn du dich als Regisseur ohne Dekor, Licht, nur mit Kostümen, Schauspielern und purer Inszenierung wieder findest, hinterfragst du deine Kunst, das belebt deine Arbeit neu, denn du musst etwas anderes erfinden ! In dem Projekt habe ich mir zwei Etappen fixiert: Die Dynamik des TNS wiederzufinden, in welches viele Leute unter der Leitung von Stéphane Braunschweig kamen, und diese dann übertreffen. Das werden auch zwei Jahre sein, die ich benötige um die Stadt zu verstehen, ihre Soziologie. Der Leiter der Institution muss diese Dinge ankurbeln, also muss er eine sehr genaue Kenntnis des Terrains besitzen. Die kommende Saison wurde von Julie Brochen programmiert. Ich habe daraus nur zwei Aufführungen ausgewählt, insbesondere Le Canard sauvage von Stéphane Braunschweig[1. Vom 12. bis 23. Mai 2015, mit deutschen Übertiteln am Donnerstag den 21. Mai], der seit seinem Weggang nicht mehr hierher zurückgekehrt ist. Später möchte ich auch versuchen den Jungen, die die Schule absolviert haben Signale zu geben, denn ich denke es ist wichtig, dass es in ihrem Haus weitergeht.
Zum Zeitpunkt der Kämpfe der Bewegung der illegalen Einwanderer und der Expulsion manu militari aus der Kirche Saint-Bernard, haben Sie damit geliebäugelt in die Politik zu gehen. Schlussendlich versuchen Sie die Dinge durch das Theater zu bewegen. Glauben Sie noch immer daran ?
Ich denke nicht, dass es die Welt verändern kann ! Ich habe immer gegen diese Idee gekämpft, denn ich kannte viele Kollegen, die das sagten und es nicht für nötig hielten auf die Straße zu gehen um wirklich etwas zu ändern. Das Theater hat eine unglaubliche Erweckungskraft, in Bezug auf das Bewusstsein, das man immer einzuschläfern versucht. Es erlaubt es, beim Betrachter eine gewisse Wachsamkeit zu erhalten. Ich mag das Texttheater, denn es ist jenes des Wortes und somit der Gedanken und ihrer Zirkulation.
In Angesicht des Anstiegs an „Unterhaltung“ ist das „Theater des Wortes“, das Pasolini so wichtig war, im Kampf mit der Massenkultur wichtiger als je zuvor ?
Die Herausforderung in Saint-Denis war es Leute anzulocken, die nicht ins Theater kamen und ihnen ein genauso anspruchsvolles Programm anzubieten wie den treuen Theaterbesuchern. Man muss sie begleiten und nie alleine lassen. Das Theater des Wortes findet sich an vielen Orten wieder. Rap zum Beispiel ist von A bis Z nur politisches Wort. Diese Frage um die Notwendigkeit Poesie zu hören, Worte die Sinn machen, ist vielleicht heute noch relevanter, denn unsere Politiker verlieren die Sprache.
Da wir über die Arbeit an der Sprache sprechen, Sie haben gerade mit Pierre Guyotat, mit einer Inszenierung von Joyeux animaux de la misère begonnen. Eine künftige Kreation des TNS ?
Ja, auf dem Festival d’Automne 2015 nachdem hier in Straßburg geprobt wurde, wo wir es natürlich im TNS spielen werden. Ich werde nicht mehr auf der Bühne stehen wie es vorgesehen war. Es wird zwei oder drei Schauspieler geben. Und dann im gleichen Jahr eine Wiederaufnahme von Pasolini, Affabulazione, das ich im März 2015 am Theater Vidy-Lausanne kreiere, und vielleicht sogar Ende der Saison 2015/16, die nächste Arbeit mit Falk Richter, die wir hier einstudieren und erschaffen werden, in welcher ich auch spielen werde.
Es ist wichtig für Sie Schauspieler zu bleiben ?
Ich wollte Schauspieler sein, bevor mich die Regie einnahm und mich 15 Jahre lang begleitete. Anschließend habe ich wieder angefangen für andere zu spielen und schlussendlich finde ich, dass es sehr wichtig ist, auf die Bühne zurückzukehren: Die Macht zwischen Regisseur, Schauspielern und Autor muss geteilt werden, wo sie heute meist vollständig beim Regisseur liegt. Das ist eine Katastrophe, denn das reflektiert nur eine einzig Vision der Welt. Wenn man sich vorstellt, dass in den vergangenen Jahren das Theater nur von Autoren und Schauspielern programmiert worden wäre, dann hätten wir eine ganz andere Theatergeschichte !
Da machen Sie, indem Sie am TNS sechs Regisseure assoziieren ?
Es wird sicherlich auch 12 Schauspieler geben – aus mehreren Generationen und von unterschiedlicher Wichtigkeit auf der aktuellen französischen Szene – ab September 2015. Die Idee ist das Theater und die Schule einander anzunähern. Im ersten Jahr werden drei Regisseure je eine Kreation gestalten und drei an der Schule arbeiten. Im folgenden Jahr kehren wir das Prinzip um. Dazu kommen Projekte mit Schauspielern, deren Namen ich noch nicht verraten kann. Ich gebe die Idee der Truppe auf, die ich in der Vergangenheit ausprobiert habe, an die ich aber nicht mehr glaube. Oder aber es muss wie in den deutschen Ensembles sein und man muss 50 Mitglieder haben, damit sich was bewegt, aber das ist nicht lebbar !
Als Sie jung waren hatten Sie zwei Idole: Pierre Boulez und Jean-Luc Godard…
Das stimmt immer noch…
Die Legende besagt, dass die beiden sie mit 31 Jahren angerufen haben…
In der selben Woche, das ist keine Legende ! Das ist verrückt, die beiden Personen, die sie am meisten faszinieren ! Ich sagte mir, dass sie den Weg, den ich zurückgelegt hatte anerkannten. Das was ich vollbracht hatte machte einen Sinn und andere sagten das auch, was für mich sehr viel zählte.
Haben Sie noch Idole ?
Ich habe Lust zu flachsen und Blödsinn zu erzählen wie Sheila und Claude Francois, aber meine Idole sind einfach Leute, deren Laufbahn ich bewundere. Heute sind sie jünger: ich mag Vincent Macaigne sehr zum Beispiel, selbst wenn das Wort Idol vielleicht etwas stark ist. Oder Arnaud Desplechin und Jérôme Bel, die mich zutiefst interessieren !
+33 (0)3 88 24 88 00 – www.tns.fr