Unchained : Marlene Monteiro Freitas inszeniert Bacchantes
Marlene Monteiro Freitas trommelt Dionysos und seine Bacchantinnen zu einem Vorspiel der Läuterung voller Nachahmungen, Musiker und Tänzer zusammen, die die Automaten eines dadaistischen Karnevals spielen.
Von Euripides Tragödie wird keine einzige Zeile geflüstert. Nur hier und da erkennt man die eine oder andere Figur wieder. Der Gott Dionysos, sein Cousin Pentheus, der sich über seine Rückkehr nach Theben erzürnt oder seine Mutter Agaue, die die Bacchantinnen anführt, die dem illegitimen Sohn von Zeus einen Kult widmen, der wieder einmal unstet und blutrünstig ist. Voller Spannung wird das Werk bei Marlene Monteiro Freitas von einer kollektiven Hysterie getaktet, einem Wunsch nach Transformation, einem triebhaften Wahnsinn der körperlichen und sinnlichen Grenzüberschreitung. Auf einer Bühne im Format 16:9 entwickelt die Choreographin imaginäre Blasen für fünf Trompetenspieler, drei Tänzerinnen mit goldenen Badekappen (darunter Freitas herself) und vier Tänzer in kurzen Latzhosen. Das Ganze inmitten von Pads und einem Schwarm von Pulten, die reihum, im Rhythmus der Metamorphosen à la Ovid als Krücken, Paddel, Staubsauger, Lanzen, Musikinstrumente, Fahrräder, Reittiere oder Schreibmaschinen für unter Drogen stehende Schreibkräfte dienen!
Die Kapverdierin, die von vielen in (M)IMOSA von Trajal Harrell entdeckt wurde, engagiert ihre Interpreten zu einer sehr konkreten Arbeit über Emotion, in der jeder permanent im Spiel ist. Die Körper gehören sich nicht mehr, formen eine atemberaubende Galerie von Grimassen und Gesichtsverformungen, die dem Bizarren gewidmet sind. Sie sind wild, eingezwängt, eingeklemmt, von ruckartigen Zuckungen geschüttelt, wie Hampelmänner, die ein Trinkgelage zu Lo-Fi-Hintergrundmusik feiern, das mit Blechblasinstrumenten, Plastikschläuchen und Stäbchen gespielt wird. Die Nachahmung schwankt zwischen Elektro-Popokonzert, Reggae-Dub mit rauen Stimmen und sanften Gnossienne von Sati vor 16 Minuten atemberaubendem Bolero. Jeder gibt alles, was die Karnevalsatmosphäre verstärkt, bis hin zu Anspielungen auf Kino und Geräuschkulissen in Videospielen. Die große Expressivität der mit halben Masken und funkelnder Schminke bedeckten Gesichter verstärkt die Diskrepanzen. Der Bann ist mächtig, der Zauber generell, dank Tänzern, die freudig aufgeregt auf Hockern sitzen. Man kringelt sich vor Lachen, vor so viel Verrücktheit und einem Einfallsreichtum, der die einfache glückselige Betrachtung zertrümmert um darin die Liebe zu einer anscheinend indisziplinierten Instabilität zu verorten. Nur dem Anschein nach.
In L’Arsenal (Metz) am Donnerstag den 3. März im Rahmen des Höhepunktes Saudade in der Cité musicale (20. Februar bis 6. März),der die Saison Frankreich-Portugal 2022 feiert