Thomas Hengelbrock: Interview im Rahmen von La Grande Gare 2023
Ein außergewöhnlicher Werther von Massenet und zahlreiche Konzerte: La Grande Gare 2023 verspricht großartig zu werden. Gespräch mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock.
Wie kann man den Geist des Festivals zusammenfassen, das Sie mit Benedikt Stampa, dem Intendanten des Festspielhauses, gemeinsam kuratieren?
Unser Projekt besteht darin, den europäischen Geist anhand der künstlerischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert zu erkunden und das Publikum von beiden Seiten des Rheins zusammenzubringen. Unsere Länder sind die beiden Seiten derselben Medaille, das darf man nie vergessen.
Sie haben eine enge Beziehung zu Frankreich…
Ich kam zum ersten Mal mit fünfzehn Jahren nach Paris und habe dort rund eine Woche verbracht. Ich habe mir damals geschworen eines Tages dorthin zu ziehen, die Sprache zu lernen, in diese Kultur einzutauchen, die mich fasziniert. Als mir Gérard Mortier im Jahr 2005 angeboten hat Orphée et Eurydice von Gluck, an der Opéra Bastille zu dirigieren, in einer Inszenierung von Pina Bausch, war ich begeistert. Nach und nach habe ich französische Musik und Literatur aufgesogen… bis ich mich in Paris installierte und im Château de Fontainebleau mit dem Ensemble und dem Chor Balthasar Neumann eine Residenz hielt.
Sie werden Werther von Massenet dirigieren (in einer Inszenierung von Robert Carsen, 24. & 26.11.): Was sind ihre Verbindungen zur französischen Musik?
Ich bin mit Brahms, Schumann, Mahler aufgewachsen… Eines Tages habe ich, dank Frans Brüggen, Nikolaus Harnoncourt kennengelernt und seine historisch informierte Aufführungspraxis von Rameau oder Lully entdeckt. Ich war von der Schönheit dieser Musik begeistert und ich habe mich gefragt, wie das weiterging. Also habe ich studiert, bin in das Werk von Méhul eingetaucht, dann in die gesamte französische Romantik.
Was ist nötig, um Werther zu dirigieren?
Die Partitur reicht nicht aus. Man muss sich mit den ästhetischen und literarischen Quellen vollsaugen, natürlich Goethe. Aber um Goethe zu verstehen, muss man wieder Rousseau lesen, denn er hat von ihm vieles übernommen, ob in der Naturbeschreibung oder dem Verständnis eines jungen Mannes wie Werther. Dieses Werk kann als Brücke dienen zwischen unseren beiden Ländern: Erinnern Sie sich an die Diskussion über das Buch zwischen Napoléon und Goethe im Jahr 1808 in Erfurt.
Eine der Fallen, die man umgehen muss, ist jene einer zu schnulzigen oder zu sentimentalen Musik…
In Werther sind die Stimmen oft mit den Holzbläsern verflochten, was einen leichten, fast transparenten Stoff erzeugt. Man erinnert sich daran, dass er Debussy beeinflusste und Koechlin einer seiner Schüler war. Man muss diese Partitur auf fast impressionistische Weise lesen, um ihr Flexibilität einzuträufeln. Natürlich erinnern einige Szenen daran, dass Massenet Parsifal gut kennt. Es besteht nichtsdestotrotz ein großer Unterschied mit Wagner: Beim französischen Komponisten sind die Gefühle genauso tiefgründig, drücken sich aber in einem Augenzwinkern, voller Subtilität aus. Sie sind da, prägnant, und verflüchtigen sich dann, ohne dass die Sätze breiter oder schwerer würden…
Im Festspielhaus (Baden-Baden) vom 18. bis 26. November
festspielhaus.de