Street Life betrachtet den Stadtraum neu, als Bühne, auf die die Fragestellungen jeder Epoche von der Kunst gebracht werden.
Von der Moderne bis heute, erlaubt das wachsende Interesse für die Straße – ihre Rastlosigkeit, ihre Arbeiter, ihren Zirkulationsfluss, ihre Nutzung zu politischen Zwecken… – einen thematischen Zugang in die Kunstgeschichte, den das Wilhelm-Hack-Museum mit Eifer ermöglicht. In sechs bissige Themen unterteilt, interpretieren die Meisterwerke die Positionierung der großen Kunstströmungen neu: Für den Futurismus symbolisieren die Städte die Dynamik der Moderne, während sie Orte von Vergnügung und Sittenverfall für die Expressionisten sind, die sich gleichermaßen für soziale und politische Konflikte wie für deren Auswirkungen auf die inneren Unruhen eines jedes Einzelnen interessieren. Die Surrealisten projizieren in das Labyrinth der Straßen die verdrängten Obsessionen und geheimen Wünsche der Menschheit. Die Photographie erobert diesen gemeinsamen Raum wie kein anderes Medium. Wie Spaziergänger, nehmen die Künstler der Reihe nach humanistische und soziale Visionen auf, wie Helen Levitt, die das Leben zu Füßen der Blocks in Harlem in den 1930er Jahren verewigte, insbesondere die Spiele der Kinder, die Kreidezeichnungen. Die Street Photography ist ein Genre für sich geworden, ziemlich wild, mit ihren spontanen Aufnahmen, die die Rastlosigkeit der zeitgenössischen Städte und ihre Exzesse wiedergeben, ein Beat Streuli (geboren 1957) feiert die Bewegung, die Diversität und die komplexen Widersprüche einer globalisierten Welt.
Die Neuaneignung des öffentlichen Raums durch die Performancekünstler, ab den 1960er Jahren, macht aus ihm den passenden Ort für Kritik an Konsum und Konformismus. So führte Valie Export im Jahr 1968 Peter Weibel an einer Leine spazieren, auf allen Vieren. Mit Villeglé kehren die Werbegraphiker die Werbung und ihre Botschaften um. Die großen studentischen Kämpfe, Demonstrationen für Frieden oder Bürgerrechte haben aus der Straße ein riesiges Gemälde ihrer emanzipatorischen Forderungen gemacht. Die Regenschirm-Bewegung in Hongkong, Black Lives Matter und andere treten heute in ihre Fußstapfen. Von dort bis zum Graffiti ist es nur einen Katzensprung, den der Vorreiter Brassaï vor allen anderen machte (sein Roi Soleil, den er 1940 in den Felsen gravierte, erinnert an prähistorische Gemälde). Keith Haring begann damit ebene Oberflächen auszufüllen, Jean-Michel Basquiat hinterließ überall seinen Same Old Shit, wenn er nicht gerade Stadtmöblierung (Palisaden, Türen, Holzstücke…) mitgehen ließ, als Untergrund für seine ersten Gemälde. Das Ballett der Zeichen, Schilder, Neonröhren und Verkehrssignale wird die Pop-Art und die Konzeptkunst faszinieren. Aber wenn wir nur einen aussuchen sollten, wäre es vielleicht Rudolf Schlichter, dessen wunderschönes Aquarell auf Papier (Hausvogteiplatz, 1926), Passanten präsentiert, die wie aus dem Ei gepellt sind, auf einem Platz zusammengedrängt, zwischen schicken Boutiquen und… vor Blut tropfenden Galgen im Hintergrund.
Im Wilhelm-Hack-Museum (Ludwigshafen am Rhein) bis 5. März 2023
wilhelmhack.museum