Das Kunstmuseum Bern lässt den Besucher Gegen den Strom reisen

Die Häuser, zwischen 1920-1921, Paris, Musée de l'Orangerie, collection Sammlung Jean Walter & Paul Guillaume. Photo : bpk / RMN-Grand Palais © Hervé Lewandowski

In Bern lässt Chaïm Soutine den Besucher Gegen den Strom reisen, in bildlichen Universen, die vom Siegel der Pein geprägt sind. 

Als er im Jahr 1913 in Paris ankommt, installiert sich Chaïm Soutine (1893-1943), der in einer jüdisch-orthodoxen Familie in einem Schtetl eines Landes aufwuchs, das noch nicht Belarus heißt, in La Ruche. Im damaligen künstlerischen Aufruhr konvertiert er nicht zum Kanon, der in Mode ist, bleibt gegenständlich mit einer Tendenz zur gequälten Expressivität. Während sein Freund Modigliani die Körper mit Raffinesse in die Länge zieht, verformt er sie zu konvulsi- ven und vibrierenden Linien. Davon zeugen zahlreiche Portraits von Leuten aus dem Volk: Eine Tricoteuse (Strickende, 1924-25) mit wahnsinnigem Blick steht einer Vieille Fille (Alten Jungfer, um 1920) gegenüber, deren Schönheit verwelkt ist, aber noch in einem Gesicht sichtbar ist, das an eine verkümmerte Pflaume erinnert, oder ein schwächlicher Groom (Page, 1925), der an einen ausgerenkten Hampelmann erinnert, der Schwermut verströmt. Man entdeckt einen Künstler, der von denen fasziniert ist, den gewisse Leute mit Verachtung „Menschen, die nichts sind“* nennen: Ein außergewöhnlicher Cuisinier de Cagnes (Koch von Cagnes 1924) oder ein melan- cholischer Tzigane (Zigeuner, 1926).

Mit seiner Palette des Schmerzes, dank kräftiger Impastos, scheint der Maler die Seele einer Menschheit am Rande der Gesellschaft einzufangen, zwischen Repräsentation einer sozialen Klasse und Sprung in die angsterfüllte Psyche… Die seinige noch mehr als jene seines Modells, denn der Kummer kauert in ihm seit seiner frühesten Kindheit, Periode, in der sich die Matrix seines Schaffens versteckt: „Einmal sah ich wie der Metzger des Dorfes den Hals einer Gans durchschnitt und das Blut fließen ließ. Ich wollte schreien, aber seine Fröhlichkeit schnürte mir die Kehle zu. Diesen Schrei spüre ich noch dort. Als ich Kind war und ein ungeschicktes Portrait meines Lehrers zeichnete, versuchte ich mich von diesem Schrei zu befreien, aber ohne Erfolg. Als ich ein Rindergerippe malte, war es immer noch dieser selbe Schrei, von dem ich mich befreien wollte. Es ist mir noch nicht gelungen“, schrieb er. Dieser stille Schrei schwebt über den Gesichtern, die er malt. Er schwebt ebenfalls über den zerrissenen Landschaften, wie seinen Maisons (Häuser, um 1920-21) deren Wellungen nichts mit dem Jubel eines Hundertwasser zu tun haben und eher zu den düsteren expressionistischen Ausblicken des Cabinets des Dr. Caligari tendieren, Film von Robert Wiene, der ihr Zeitgenosse ist. Er schwebt noch mehr über den todbringenden Still-Leben, die von Chardin inspiriert sind (Still-Leben mit Heringen, 1916; es kündigt komischerweise die Askese der ersten Gemälde von Bernard Buffet an) oder Rembrandt (das blutige Fleisch des Geschlachteten Ochsens, um 1925), die er im Louvre entdeckte. Man ist nicht erstaunt darüber, dass die Malerei von Chaïm Soutine die abstrakten Expressionisten faszinierte – der Dialog mit Willem de Kooning, den das Musée de l’Orangerie im Jahr 2022 präsentierte, hat dies auf schöne Weise illustriert –, ebenso wie Francis Bacon. 

* Anspielung auf einen Satz aus einer Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron vom 29.06.2017 über „Die Leute, die Erfolg haben und die Menschen, die nichts sind“ 

Im Kunstmuseum Bern, bis 1. Dezember 

> Geführte Besichtigung am 06., 13. & 27.10., 03. & 17.11., 01.12. (11 Uhr)

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