Burn-out: Clarissa Tossin in der Kunsthalle Mulhouse
Als subtile Überlegung zu den Paradoxen der Globalisierung, wirft Umsegelung bis zur Erschöpfung einen Blick auf das engagierte Werk von Clarissa Tossin.
Für die brasilianische Künstlerin Clarissa Tossin, die heute in Los Angeles lebt, hat alles mit den großen Erkundungen des 15. und 16. Jahrhunderts begonnen, von Christoph Kolumbus bis Pedro Álvares Cabral (dem Entdecker des Heimatlandes der Künstlerin) über Magellan, dessen Besatzung die erste Weltumrundung im Schiff realisierte – die berühmte Umsegelung. Ohne es zu ahnen gaben die Entdecker und Eroberer in der Tat den Startschuss für die globalisierte Wirtschaft, deren Aufschwung zu einem ungezügelten Kapitalismus führte, dem die Ausbeutung der Ressourcen, die Überproduktion und übermäßiger Konsum, der generalisierte Austausch von Waren, Personen, Pflanzen, Tieren, Lebensmitteln… und Krankheiten zugrunde liegt. Die Serie mit dem Titel Umsegelung bis zur Erschöpfung (die der Ausstellung ihren Namen verlieh) verflechtet – nach den Techniken der Baniwa-Indianer in Amazonien – Kartonstreifen von Amazonlieferungen mit Satelittenaufnahmen der Erde, die von der Nasa aufgenommen wurden, zu einer Weltkarte, die an die antiken Karten des Theatrum Orbis Terrarum von Abraham Ortelius erinnern, den ersten modernen Atlas. Aber die Motive, die Clarissa Tossin flechtet, heben vor allem die Zonen des Planeten hervor, die von den Lithium-und Coltanminen zerfressen werden, welche zur Herstellung von Smartphones und Batterien für Elektroautos benutzt werden!
Als echtes Nebenprodukt der industriellen Revolution und der Konsumge- sellschaft, steht die Klimaerwärmung ebenfalls im Zentrum der Anliegen der Künstlerin. Für Death by Heat Wave, das speziell für die Ausstellung entworfen wurde (realisiert in Zusammenarbeit mit dem Office national des Forêts) wurde ein monumentaler Ahorn im Wald von Didenheim geschlagen – der die Hitze 2019 nicht überlebt hatte – zerteilt, transportiert und in seiner ganzen Größe abgeformt, Ast für Ast: Der Silikonabdruck seines Kadavers nimmt den Raum der Kunsthalle ein. Schon 2019 hatte Tossin Baumrinde und Satellitenbilder von Amazoni- en verflochten, wo damals schlimme Waldbrände herrschten. Unter dem Titel A Queda do Céu (Der Sturz des Himmels, in Portugiesisch) lässt das Triptychon die geometrische Aufteilung der vom brasilianischen Agrobusiness abgeforsteten Parzellen erscheinen, deren sehr einträgliche Interessen Präsident Jair Bolsonaro gegenüber der internationalen Gemeinschaft verteidigt. Die Bildhauerin erinnert Klimaleugner daran, dass die Naturkatastrophen dieser letzten Jahre dies nur dem Namen nach sind. Nur der Mensch ist für sie verantwortlich. Alle Menschen, kollektiv und individuell. Ohne Ausnahme. So präsentiert Becoming Mineral eine ergreifende Serie von Totenmasken, die die junge Frau während des Lockdowns 2020 von ihrem Gesicht abmodellierte, mit den Resten von Tonerde und anderen Materialien, die sie für ihre Arbeit verwendet.
In La Kunsthalle (Mulhouse) bis zum 31. Oktober
kunsthallemulhouse.com
clarissatossin.net