Julie Doucet, comic-star

Suicide total (détail), 2019, encre noire sur papier, carnet leporello. Collection de l’artiste © Julie Doucet

Im Musée Tomi Ungerer erlaubt es Eine Retrospektive, die Julie Doucet gewidmet ist, eine vielfältige, kreative Pionierin zu entdecken. 

Als Julie Doucet Ende der 1980er Jahre in Montreal damit beginnt ihr Fanzine Dirty Plotte im Selbstverlag herauszubringen – ein umgangssprachlicher Begriff, der in Québec gleichzeitig ein leichtes Mädchen und eine Vulva bezeichnet – denkt sich nicht daran eine Kulturrevolution in der damals äußerst maskulinen Welt des Comics auszulösen: „Ihre Art von sich zu sprechen, gleichzeitig intim und politisch, hat es einer ganzen Generation von Frauen erlaubt zu zeichnen und ihr eigenes Leben als Werkmaterial zu nehmen“, fasst Anna Sailer, Kuratorin dieser Ausstellung und Direktorin des Musée Tomi Ungerer, zusammen. Drei photokopierte Seiten in schwarz-weiß, gefaltet und getackert, sind der Untergrund der autobiographisch-fiktiven Geschichten der Underground- Künstlerin aus Québec. Sie spricht alle Aspekte ihres Alltags an, von existenziellen Zweifeln bis zu Regelbeschwerden, von sexueller Lust bis zu epileptischen Anfällen. Die Stimmung ist Punk. Trash. Eher dreckige Linie als Ligne claire. Schnell wird man auf sie aufmerksam: So wenden sich Art Spiegelman und Françoise Mouly an sie für das Raw Magazine. Der chronologische Rundgang erzählt die Laufbahn der Preisträgerin des Grand Prix 2022 des Festival d’Angoulême, die die Durchlässigkeit und Flüssigkeit der Grenzen zwischen zeitgenössischer Kunst und Comic illustriert… die sie Anfang der 2000er Jahre beiseite lässt, ohne nichtsdestotrotz damit aufzuhören die Beziehungen zwischen Text und Bild zu erkunden, indem sie sich der verschiedensten Medien bedient: Film, Linolschnitt, Collage, Skulptur, Poesie, etc. 

 

Im Laufe der Säle bleibt man fasziniert von Melek (2000), einer graphischen Fiktion, die sich auf Photographien stützt, die sie neben einem Mülleimer im Tiergarten gefunden hat. Mit wunderschönen Gravuren denkt sich Julie Doucet eine poetische Konstruktion aus, die die Geschichte einer türkischen Familie aus Berlin erzählt, wo sie damals wohnt, wobei sie die Ufer der autobiographischen Fiktion verlässt, um an jenen der Exofiktion zu stranden. Von der Gründung des Mouvement Lent (2000) – dessen heilbringende Plakate, die dazu einladen die Geschwindigkeit zu reduzieren den Stadtraum erobern – bis zu den Collagen aus zerschnittenen Texten von J comme Je (Seuil, 2005), über die Mini-Auflage von Sophie Punt (2001-2005) oder die Gedichte deren Buchstaben zu Protagonisten werden, entdeckt man die Facetten einer zutiefst politischen und radikalfeministischen Künstlerin, die nicht vor Übertretungen zurückschreckt und deren Hunger auf Experimente nie gesättigt schient. Eines der Neuesten heißt Suicide total (L’Association, 2023), Leporello der in gewisser Weise eine Rückkehr zum Comic bedeutet, sowie eine Erweiterung seines Gebiets in Form einer Zeitmaschine. 


Im Museé Tomi Ungerer – Centre international de l’Illustration (Straßburg) bis 3. November
 
musees.strasbourg.eujuliedoucet.net 

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