Charleville-Mézières und das FMTM 2023

FMTM 2023 : AVATARA Photo : Steven Tips

Die 22. Auflage des Festival mondial des Théâtres de Marionnettes (FMTM) antwortet wie ein Echo auf schwebende Welten, existentielle Kämpfe und eine neue Poetik des Menschlichen.

Im Norden der Ardennen wird die Stadt Charleville-Mézières – jene des Chevalier de Bayard und des Dichters Arthur Rimbaud – alle zwei Jahre zum weltweiten Epizentrum der Marionette. Die Einwohner empfangen so dieses Jahr, zusätzlich zu den tausenden Zuschauern, 86 Theatertruppen, darunter 36 internationale für rund 18 Uraufführungen.

Unsichtbare Präsenzen
Yôkaï aus Reims – ein japanisches Monster, wobei der Begriff im weiteren Sinne auch ein übernatürliches Phänomen oder alles bezeichnen kann, was nicht menschlich ist – sind mit einer neuen Kreation zurück: Nature Morte (16. & 17.09.). Indem sie weiter ihrer Faszination für das Unsichtbare folgt, lässt sich Violaine Fimbel von der zentralen Figur aus Huysmans À rebours inspirieren: Der Versuch von Des Esseintes der Realität zu entfliehen, seine Arroganz, die Natur zu übergehen und sie zu bändigen, ohne dass es ihm gelingt. Die Regisseurin, die ein Fan von Spezialeffekten aus dem Kino ist, von Marionetten und Zauberei um, in einem beunruhigenden Halbdunkel voller Rauch, ihre Erscheinungen auftauchen zu lassen, kehrt die Fragestellung um. Ihr Postulat ist das Verschwinden des Menschen zugunsten der Kreatur. Der alte unkonventionelle Einsiedler, der gelähmt ist vor Geruchs-und Sichthalluzinationen, die auch für das Publikum ergreifend zu sein versprechen, erlaubt es ihr mit der Zwischenwelt zwischen der Realität und dem Phantastischen zu spielen, dem Lebenden und dem Tod, der Seele und ihrer Hülle. Die Objekte werden, wie durch Zauberhand zum Leben erweckt! Die unterschiedlichen Kreaturen des Stücks (Füchse, Vogel-Skelette, Schildkröten…) werden aus der Distanz dirigiert, dank einer maßgeschneiderten Entwicklung von technologischen Vorgehensweisen, aus dem Forschungsprogramm Réveil Invisible, das von der Truppe 2021 begonnen wurde. Eine weitere halluzinatorische Reise, die Adaptation des Horla von Maupassant mit Les Anges au Plafond (19 & 20.09.). Jonas Coutancier und seine Marionette mit seinem Konterfei werden von der Musikerin Solène Comsa begleitet, die über ihnen hängt, mehrere Meter über dem Boden, und dort live den Soundtrack spielt. Der Interpret-Regisseur taucht in den Wahnsinn ein, erzählt das Irreale, das ihn heimsucht und seine Ängste in einem Ballett der Persönlichkeitsspaltung mit seiner Marionette, mit vielen optischen Effekten und Schattentheater. Und schließlich ist jede Kreation von Yngvild Aspeli ein Ereignis. Sie wagt sich an Ibsen mit einer Adaptation von Une Maison de poupée (Nora oder ein Puppenheim, 16 & 17.09.), voller Gespenster. Nora verlässt ihren Ehemann und ihre drei Kinder in einer Emanzipation, die von einem Frauenchor und einer frenetischen und besessenen Tarantella bestärkt wird!

Charleville-Mézières
Charleville-Mézières: FMTM 2023 : Le Horla. Photo : Arnaud Bertereau

Mensch versus Maschine
Gerade erst in Dunkerque im Bercail gestrandet, kreiert Alice Laloy eine dritte Version von Pinocchio (live) #3 im FMTM (22. und 23.09.), mit 22 Kindern und Jugendlichen aus der Region Hauts-de-France, für eine Bühnenperformance, die die Grenzen zwischen Mensch und Marionette verwischt. Maschinelle Gesten, vor Wahrheit schreiende Schminke (mit Augen, die auf die Lider aufgemalt sind) machen aus diesem Stück ein Ritual der Enthumanisierung, das total… eisig ist! Die neue Direktorin des TJP in Straßburg, Kaori Ito, präsentiert Robot, l’amour éternel (16. & 17.09.), für das sie Abdrücke von Teilen ihres Körpers gemacht hat, mit denen sie wie mit Prothesen spielt. In diesem Solo entdeckt sie das Leben als Automat wieder, ein Echo auf die Angst vor dem Tod, der doch wie der Beginn von etwas anderem betrachtet wird, zu O Solitude von Purcell, interpretiert von Rosemary Standley, Sängerin von Moriarty. Eine (Wieder)Geburt für die junge Mutter, die sie bei der Kreation war, mit einem Leben, das an allen Ecken der Welt
verstreut war, ein Rennen von einem Termin zum Nächsten. Verpassen Sie nicht die Duda Paiva Company & Illusionary Rockaz Company aus den Niederlanden, die erstmals in Frankreich auftritt. Avatara (23. & 24.09.) orchestriert die Begegnung zwischen indischer und brasilianischer Mythologie, mit aus Schaumstoff geschnittenen Figuren, die belebt zu sein scheinen. Zwischen Popping, mechanisch animierten Kreaturen und menschengroßen Marionetten, enthüllt der Tanz seine ganze anschauliche Macht.

Kämpfe
Beenden wir diesen bescheidenen Rundgang durch das Programm mit La (nouvelle) Ronde von Johanny Bert
(16. & 17.09.), inspiriert von einem Stück von Arthur Schnitzler, das Ende des Jahrhunderts zensiert wurde. Der Grund war die als verrufen empfundene Behandlung von Sex-und Liebesthemen. In einem Flechtwerk von rund zehn Geschichten, in der jede Figur eine Begegnung mit der kommenden erlebt, bietet sich die gesamte Queer-Diversität dar: Riesige Klitoris, eine Bondage-Domina, Freudenroboter, Trans… In Direktbegleitung einer Gitarre, ist das humorvolle Stück von roher Zartheit und feiert die Liebe in Großbuchstaben.

FMTM 2023
Charleville-Mézières : FMTM 2023 : Pinocchio (live) #3 – Alice Laloy © Christophe Raynaud de Lage

An verschiedenen Orten in Charleville-Mézières vom 16. bis 24. September
festival-marionnette.com

Nature morte, auf Tour in L’Arsenal (Metz, 09.10.), Auditorium de la Louvière (Épinal, 30.11.), ACB (Bar-le-Duc, 08.12.), Saint-Dié-des-Vosges (12.01.), Espace110 (Illzach, 26.01.), Festival À pas contés (Dijon, 12. & 13.02.), Manège (Reims, 17. & 18.04.) – compagnieyokai.com


Une Maison de poupée, auch im Théâtre Dijon Bourgogne (12-20.03.) plexuspolaire.com


Robot, l’amour éternel, im TJP (Strasbourg, 21.-23.03.)

Das könnte dir auch gefallen