Queeropolis : Die zerrüttende Galaxie von Ulrike Ottinger in Baden-Baden

Ulrike Ottinger, Das Gastmahl der verfolgten Wissenschaftler und Künstler, 1981

In Baden-Baden lädt eine begeisternde Retrospektive dazu ein, die zerrüttende Galaxie von Ulrike Ottinger, Preisträgerin des Hans-Thoma-Preises1 2021, zu erkunden.

Mit fast achtzig Jahren hat Ulrike Ottinger nichts von ihrer Radikalität verloren. Im riesigen Saal, der den intelligenten Cosmos Ottinger eröffnet, thront Das Gastmahl der Verfolgten, eine riesige Installation von 2022, die eine Szene aus Freak Orlando (1981) in drei Dimensionen umsetzt. Die Ambition dieses avantgardistischen Films, der den Roman von Virginia Woolf neu interpretiert, ist es die menschliche Geschichte zu umfassen, insbesondere ihre düsteren Seiten. Dieses Queer-Manifest, das Delphine Seyrig und Magdalena Montezuma – die Muse von Werner Schroeter – in Szene setzt, ähnelt einer entsicherten Bombe. Irgendwo zwischen Antonin Artaud und Alejandro Jodorowsky tollen Freaks herum: Hühner mit Babyköpfen, Deutsche Dogge mit weißem Fell und einigen schwarzen Flecken, die von einem ebenfalls zweifarbigen Zwerg spazieren geführt wird, Mönche, die sich BDSM-Ritualen unterwerfen, in denen die Kutte aus braunem Wollstoff jenen in Latex quält, etc. Sie präsentieren eine Ode an die genderfluide Identität, an die Androgynie und an das Freimachen von sexuellen Konventionen.

Am Eingang dieses selben Saals taucht man in das Atelier der Künstlerin mit „Bildpartitionen“ und anderen Szenarien ein, die von Gravuren oder Photos illustriert werden, welche das Rohmaterial für ihre Kreationen darstellen. Alle Wände sind mit aktuellen Textil-Collagen bedeckt, die von Figuren der Gegen-Kultur bevölkert sind, von Valeska Gert2 mit studierter Feierlichkeit, bis zu Allen Ginsberg, der als Oncle Sam verkleidet ist: Sie stehen mit Paris Calligrammes (2020) in Verbindung, das die Pariser Jahre der Künstlerin, von 1962 bis 1969, mit der Offstimme von Fanny Ardent erzählt. Seit dieser Epoche ist die politische Matrix von Ulrike Ottinger installiert, eine Mischung aus radikalem Feminismus, Antikolonialismus oder auch Queer-Bejahung. Äußerst aktuelle Thematiken, die mit einer Überschwänglichkeit behandelt werden, die mit einer ironischen Schwärze gemischt ist. Die gesamte Ausstellung stellt eine Entschlüsselung dar, in der Photographien ihr Universum kartografieren, während Gemälde aus den Sechzigern, die selten ausgestellt werden, ihre Entstehung erzählen. Die Faszination wirkt mit diesen bewusst popigen Kompositionen in grellen Farben, wie das sehr psychedelische Bubble Gum oder einem erstaunlichen Eintauchen in das Unterbewusstsein des Che mit Le Penseur. Kino-Projektionen, Accessoires, die in ihren Filmen benutzt wurden, Colonial-Oper… das Portrait ist komplett und gipfelt in einem Saal mit dem Titel Beinhaus Europa: Im Zentrum thront Europa und der Stier (1987), ein gemaltes Zelt, das an den Mythos und seine Bearbeitung von Moreau oder Dix erinnert, sowie Schlachthofszenen… Sie ist umgeben von unglaublichen Aufnahmen des Ossariums in Sedlec (Bilder zur Vorbereitung des noch nicht realisierten Films La Comtesse de sang). Ein Raum, der den Effekt eines Peitschenhiebs hat und das 20. Jahrhundert des Kontinents erzählt. Und das kommende vorhersieht?


1 Preis der seit 1950 vom Bundesland Baden-Württemberg an Künstler verliehen wird, die dort geboren sind und arbeiten, darunter Otto Dix (1967), Anselm Kiefer (1983) oder Tobias Rehberger (2009)

2 Tänzerinnen, die sich in die expressionistische Bewegung einschreiben, die gerne Randfiguren verkörperte und Pina Bausch sowie Maguy Marin inspirierte

In der Staatlichen Kunsthalle (Baden-Baden) bis zum 15. Mai
kunsthalle-baden-baden.de 
ulrikeottinger.com

> Eine Auswahl von Filmen von Ulrike Ottinger wird jede Woche im Kino Moviac ausgestrahlt 
moviac.de

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