Theater 3.0: Perspectives zeigt digitale Werke

Pandemiebedingt zeigt das deutsch-französische Theaterfestival Perspectives herausragende Formate aus Deutschland. Geradezu umwerfend.

Kein Theaterersatz! Kein Monolog vor der Webcam. Auch keine Aufnahmen von Darbietungen, die „mangels Alternativen“ ohne Publikum gespielt werden. Die vier digitalen Werke, die auf dem Programm von Perspectives stehen, haben nichts von den Ersatzveranstaltungen, die in letzter Zeit auf den Homepages der Institutionen entstanden sind. In diesem Monat Mai auf eine 100% digitale Ausgabe beschränkt, hat das große deutsch-französische Rendezvous des Theaters – das seit vierzig Jahren zwischen Lothringen und dem Saarland statt- findet – auf den Einfallsreichtum der jungen deutschen Dramaturgen gesetzt und sich zur Vitrine herausragender Formate gemacht, die absolut atemberaubend sind. Dazu gehört werther.live, des Kollektivs punktlive, eine Erfrischende Interpretation der Leiden des jungen Werthers (1774). Das Stück nach Goethes Briefroman ist explizit für den digitalen Raum konzipiert. Man kann es nur während der von den Schauspielern und Technikern in Echtzeit gebotenen Darstellungen sehen. Hier hat der Student Werther während der Pandemie seine universitäre Karriere auf Eis gelegt und verbringt seine Zeit mit seinem Freund Wilhelm auf Skype. Das Publikum erlebt das Drama aus der Sicht des jungen Helden, dessen Computerbildschirm als Bühne dient, wodurch der Zuschauer in seinen digitalen Alltag eintaucht: WhatsApp-Unterhaltungen, Veröffentlichungen auf Facebook, Recherchen auf Instagram… Dieser Werther 2.0. trifft die schöne Lotte nicht auf einem Ball, sondern auf eBay – da er ihr ein Werk über alte Waffen abkauft. Statt auf Waldspaziergängen, verliebt er sich unsterblich zum Geräusch des Frühlingsregens auf ihren jeweiligen Fenstern, bei ihren Rendezvous auf Zoom. Die Übertragung auf das 21. Jahrhundert ist total… und trotzdem merkwürdig nah dran an der ursprünglichen Intrige und ihrem Tonfall. Raffiniert und teuflisch fesselnd!

Ebenso unerwartet ist Lob des Vergessens – Teil 2 ein Performance-Essay in Form eines Zoom-Seminars, das die verkannte Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg erkundet. Oliver Zahn, der selbst Nachfahre von Flüchtlingen ist, nimmt die Zuschauer mit auf eine historisch-soziale Untersuchung der Mechanismen des Vergessens die in einer deutschen Gesellschaft wirken, der die Pflicht der Erinnerung keine Ruhe lässt. Die Formen unterscheiden sich, aber jeder der gezeigten Versuche beruht auf einer innovativen und in- teraktiven Inszenierung. Das tolldreiste Twin Speaks in Form eines Krimis, der mithilfe von Links und GIFs abläuft. Währenddessen lädt der Lockdown des Kollektivs machina eX zu einem „Live-Theater-Game“ ein, bei dem die Teilnehmer sich über Nachrichten und Telefonanrufe austauschen um das besorg- niserregende Verschwinden einer gewissen Tess aufzuklären.


Auf der Homepage des deutsch- französischen Festivals Perspectives, vom 20. bis 29. Mai
festival-perspectives.de

Ein zweiter Höhepunkt wird in diesem Jahr im Sommer in Deutschland und Frankreich vom 29.07. bis 01. 08. stattfinden

werther.live des Kollektivs punktlive, in Deutsch mit fran- zösischen Untertiteln, am 20. & 25.05.
Lob des Vergessens – Teil 2 von Oliver Zahn, am 22.05. in Deutsch und am 29.05. in Englisch
Twin Speaks – Telegram Edition des Kollektivs vorschlag:hammer, am 21. & 24.05. in Deutsch
Lockdown des Kollektivs machina eX, am 22. & 23.05. in Deutsch

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